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S c h n e b e l
Theatrale Komposition ist bei Dieter Schnebel keineswegs eine klar abgegrenzte Gattung. Die vielfältigen Möglichkeiten des dialektischen Spiels der beiden Oppositionspaare Theater/Musik und Material/Ausdruck ziehen sich als allerlei Mischformen mit den unterschiedlichsten Dosierungen ihrer Aspekte durch Schnebels Werk. Die Trennung von Materialaspekt und Ausdrucksaspekt wird in den in zeitlicher Nachbarschaft entstandenen Werken Pan und Körper-Sprache klar vollzogen. Pan ist als Komposition für Flöte und Begleitung im Materialaspekt eindeutig als Musik im traditionellen Sinn ausgewiesen. Körper-Sprache hingegen verzichtet als gestische Komposition vollkommen auf jegliches akustische Material und bezieht sich nicht einmal mehr auf musikalische Phänomene. Beim Ausdrucksaspekt beider Stücke verhält es sich hingegen genau umgekehrt. Denn obwohl das gestische Potential des menschlichen Körpers das alleinige Material von Körper-Sprache bildet, ist das Stück weit davon entfernt, in seiner Ausarbeitung ›Pantomime‹ oder gar ›Ballett‹ zu sein. Die gestischen Vorgänge sindKompositionen strukturierter Zeitabläufe, Rhythmen und Tempi, genuin musikalischer Natur also. Ganz im Gegensatz dazu liegt dem Flötenstück Pan im Ausdrucksbereich ein Programm zugrunde, das konkreterzählerischer und dramatischer Natur ist. Die Flöte zeichnet einen Prozeß nach, der über die Stationen Erwachen, Sehnsucht und Lockung, Drängen-Jagen-Schrecken, Erfüllung (Ekstase), Erschlaffung, Träume und Einschlafen erlebnishaft psychologische Dispositionen und Handlungen erfahrbar macht.

Musiktheater ist bei Schnebel nicht bloße Addition der spezifischen Mittel von Musik und Theater, sondern es ist ein Prozeß, in dem Musik und Theater durch die ihnen innewohnenden dialektischen Potentiale eins werden. Dadurch entsteht für den Zuhörer/Zuschauer die Möglichkeit, mit einem Wechsel in der Justierung seiner Wahrnehmungsorgane dasselbe Geschehen einmal musikalisch, einmal dramatisch zu erleben.

In den Maulwerken sind Organbewegungen, die zu akustischen Resultaten führen, kompositorisch vorgegeben. Hier ist die Ineinssetzung von Musik und Theater perfekt. Die Ausführenden sind mit dem Tätigkeitsfeld von Sängern oder Vokalisten nicht mehr zu identifizieren, sondern sie sind Darsteller von Vorgängen, die eine (Mikro-)Kosmogonie des Sprechens entwickeln.

In Schnebels Schaffen ist der Mensch bevorzugtes Arbeitsfeld. Material, Struktur und Form sind in den meisten Fällen nur Mittel zu einer Arbeit an den organischen, psychischen und gesellschaftlichen Bedingungen des Menschen. Das reicht von den äußeren Konditionierungen der Funktion seiner Organe und Bewegungsapparate bis hinunter in die tiefsten Schichten seiner psychischen Urkräfte. Der Komponist wird zum Menschen-Darsteller, eine Bezeichnung, die man gemeinhin sonst nur Theaterschaffenden verleiht.

Michael Hirsch

aus: Michael Hirsch, ›Der Komponist als Menschendarsteller. Das Theater Dieter Schnebels‹ in Schnebel 60, hrsg. v. Werner Grünzweig, Gesine Schröder, Martin Supper, Hofheim 1990



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