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M a u r i c i o K a g e l
Wollte man das umfangreiche und vor allem äußerst vielfältige Schaffen Mauricio Kagels durch einen einzigen zentralen Aspekt charakterisieren, so böte sich seine Auseinandersetzung mit dem Wesen des Klanges und dessen Hervorbringung an. Für seine musikalische Arbeit ist kennzeichnend, daß er nicht allein das Tonmaterial als solches, also gewissermaßen als abstrahiertes Klangprodukt, sondern auch dessen Hervorbringung, die Klangproduktion, mit einbezieht, was sich von seinen frühesten, noch aus seiner argentinischen Heimat stammenden Stücken, wie etwa Música para la torre von 1953, bis hin zu seinen jüngsten Werken verfolgen läßt.

Die Hinwendung zur Klangerzeugung als Aktion führte Kagel dazu, den Rahmen des traditionellen Konzertbetriebs zu verlassen und – wie beispielsweise in Acustica, für experimentelle Klangerzeuger, Lautsprecher und zwei bis fünf Spieler (1970) – außer herkömmlichen Musikinstrumenten auch experimentelle, häufig selbstgebaute Klangwerkzeuge zu verwenden sowie verstärkt gestische und szenische Elemente in seine Werke einzubetten. Dadurch können die beteiligten Musiker nicht allein funktional als Hervorbringer des Klanges begriffen werden, sondern erscheinen als menschliche Akteure im vollen Sinne, wie auch die Instrumente (dieser Begriff ist hier sehr weit aufzufassen) nicht mehr als bloße Klangwerkzeuge, sondern auch als eigenständige Objekte aufgefaßt werden können. Dies führt zu einem weitgehenden Aufbrechen der traditionellen Konzertsaal-Situation, für die gerade die Verabsolutierung des Klangergebnisses gegenüber der menschlichen Handlung des Spielens und den sonstigen Umständen der Aufführung wie etwa dem Raum kennzeichnend ist. Die Praxis der experimentellen Klangerzeugung macht indes nicht vor den traditionellen Instrumenten halt, wie an den ungewöhnlichen Spieltechniken etwa in Match, für drei Spieler (1964), einem Schlüsselstück des von Kagel so bezeichneten ›Instrumentalen Theaters‹, deutlich wird. Wie bei den experimentellen Klangerzeugern gilt auch hier, daß nicht allein das klangliche Endprodukt im Vordergrund steht, sondern der zugehörigen (oftmals mit Verrenkungen einhergehenden) Aktion auf dem Instrument gleiches Augenmerk gilt. Aus dem Spielen von Musik wird somit Theater, wie andererseits theatralische Handlungen ›musikalisiert‹ werden. Wenn etwa in Match die beiden Cellisten im Wettstreit Kapriolen und andere Kunststücke auf ihren Instrumenten ausführen, während der Schlagzeuger Würfel über dem Xylophon ausschüttet, ist vollends unklar, wo Musik aufhört und Theater anfängt oder umgekehrt; beide Bereiche gehen nahtlos ineinander über und verschmelzen zu einem untrennbaren Ganzen.

Bei einer solchen Konzeption von Musik versteht es sich fast von selbst, daß auch die Bühne (sofern es sich überhaupt um ein Bühnenwerk handelt) ihre traditionelle, ›neutrale‹ Rolle verliert und zu einem Klang- und Aktionsraum umfunktioniert wird, bei dem die räumliche Aufstellung der Musiker nicht allein durch praktische, sondern auch durch klangliche und semantische Überlegungen bestimmt ist. Auf derart vielfältige Weise werden die traditionellen Grenzlinien von ›Musik‹ radikal erweitert: Musik ist nicht allein mehr klanglich wahrzunehmen, sondern auch (vielleicht wieder) visuell, manch einer würde sagen ›ganzheitlich‹ erfahrbar.

Björn Heile




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