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Gün ist auf der Suche nach dem "Eigenzusein". Dieses Projekt erscheint als Ziel in seinen Gedichten, in seinen Texten und in den bildnerischen Arbeiten wie Apparence, La Séduction — le Simultané oder 1. Bild, 2. Bild. Immer geht Gün von der eigenen Krise der Gefühle aus, die er "in der Transparenz des Raums" mittels "Transparenz des Verschwindens" überführen will in eine ›phänomenologische Écriture‹, die auch die innere Welt festhält und so die Brücke zwischen Individuellem und Kollektivem schlägt. Es sind Etappen eines künstlerischen Kampfes, dessen Plan in Splittern auf den neuen Werken zu lesen ist. Die einzelnen Etappen enden mit einer "Überwindung", aber: "Überwindung" ist nicht das Ende. Nach der Überwindung: Man muß immer bereit sein, alles wieder zuzulassen. Dieser Prozeß ist quälend, aber er verhindert das Entstehen einer Metasprache oder einer Metadisziplin, die dem Menschen zu sehr entrückt ist. In dem Werk Apparence verdeutlicht Gün solche Etappen, indem er ›Befreiung‹ in einer Auflistung Baudrillards (Libération politique, libération sexuelle, libération des forces productives etc.) umdeutet in ›Sieg‹; Libération wird zu Victoire. Worte wie ›Frau‹, ›Kunst‹, ›Verführung‹, ›das Simultane‹ werden von Gün in blendendem Weiß hervorgehoben und erhalten dadurch die Aura von Schlüsselworten seiner Suche.

Aber es wäre falsch, unser Augenmerk auf den Text allein zu lenken. Auch in Güns Verständnis ist sie integrativer Bestandteil des Werkes, das insgesamt versucht, tastend und in Fragmenten die neue Sprache zu finden, welche Menschsein, "Eigenzusein" erlaubt.

Die bildnerischen Mittel mit ihren vielen Abstufungen des Dunklen, das matte lebende Schwarz des Leders, die Fotografien der sakralen Räume mit ihrem brutal-melancholischen Spiel von Sonne und Schatten, das flüssig erkaltete Zinn, die Aschepartikel, die im Lufthauch zittern, der Zusatz sinnlicher Elemente wie das fluoreszierende Licht in La Séduction — sie alle schaffen den Raum, der Güns Suche mit ihren Oszillationen zwischen Privatestem (Gedicht-Palimpseste) und Welt (Philosophie, Metaphysik) erst ihre Eindringlichkeit verleiht.

Warum berühren uns diese Werke? Weil Gün die Dialektik, die er will, auf allen Ebenen, auf denen ein Kunstwerk zu uns spricht, durchhält: auf der Ebene der Wahrnehmung (Licht und Schatten), der des Denkens (Ton und Verschwinden), der der Geschichte (Bewahren und Vergessen) und des Fühlens (Liebe und Krieg). Schon ihr Entstehungsprozeß reflektiert diese Dialektik. Gün zerstört — er verbrennt Fotografien, er schmilzt brennendes Zinn in den Grund — und erhält das Vergehende. Das Versehrte lebt im Schutz des Künstlers Gün fort.

Joachim Sartorius

aus: Joachim Sartorius, ›"War nicht ich es, der einen Becher Feuer reichte". Zum bildnerischen Werk von Mehmet Gün‹ in Gün. Arbeiten 1991-92, Ausstellungskatalog Aya Iirini Exhibition, Istanbul 1992 Zitate stammen aus Güns eigenen Schriften Die Hölle und Hot Memories sowie aus Texten in neuen Arbeiten.



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