A l v i n L u c i e r
Enorm verstärkte Gehirnwellen, ionosphärisches Pfeifen; natürliche Resonanzen von Räumen, Zimmern, Gegenständen; Interferenzschwebungen zwischen Schallwellen; Feedback: aus diesen akustischen Phänomenen hat Lucier eine Musik geschaffen, die die Konvention des Musikhörens in Frage stellt und die nach anderen Weisen des Hörens verlangt. Die Kategorien von Klangfarbe, Tonhöhe, Rhythmus, Form, die die traditionelle Musik und Musiktheorien so klar unterschieden haben, werden von Lucier nicht als vorgegeben hingenommen. Er propagiert die Rückführung des Ohres in einen unschuldigen ›vor-musikalischen‹ Zustand, der noch nicht durch eine gegebene musikalische Praxis geprägt ist.

Eine typische Arbeit Luciers hat eine Besetzung, die mehr dem naturwissenschaftlichen Laboratorium einer Highschool ähnelt: klassische Naturwissenschaft mit gespannten Drähten, Oszillatoren, sogar Reagenzgläsern und Bunsenbrennern. Er nennt seine Instrumente schlicht "mein Handwerkszeug".

Andere zeitgenössische Komponisten sind an Naturwissenschaften ›interessiert‹, aber Luciers Naturwissenschaften sind weder vom kühlen akademischen Schlag des Kalten Kriegs, vertreten, sagen wir einmal, durch Milton Babbitt, noch vom kosmologisch-mystifizierenden eines Karlheinz Stockhausen. Lucier behauptet weder eine pseudo-wissenschaftliche noch eine mystische Begründung für sein Werk. In der Tat ist seine ›Naturwissenschaft‹ keine theoretische, vielmehr ist sie von ihrem Wesen her entschieden experimentell. Wie die von John Cage kann Luciers Ästhetik in einem Wort zusammengefaßt werden: Neugier. Was wird passieren, wenn…? ist die Frage, mit der alle Projekte Luciers beginnen.

Seine Musik ist durchaus konzeptuell, das bemerkenswerteste aber an ihr ist, daß Luciers kompositorische Praxis vorwiegend darin besteht, Ideen zu entfernen, alles bis auf das absolut Notwendige zu eliminieren, um das anstehende Problem zu erhellen.

Die durch Music for Pure Waves, Bass Drums and Acoustic Pendulums repräsentierte Naturwissenschaft ist klassisch: Es geht darum, die Resonanzfrequenzen bestimmter Objekte herauszufinden. Hier benutzt Lucier eine weitere absurde Apparatur: Tischtennisbälle werden vor den Fellen von Baßtrommeln aufgehängt, welche durch einen Sinuswellenoszillator niedriger Frequenz zum Schwingen gebracht werden. Wie es simple Dynamik vorhersagen würde, beginnen die Bälle zu springen und etablieren damit gleichmäßige rhythmische Muster. Die Koppelung zwischen der Oszillatorenfrequenz und der Resonanzfrequenz der Trommelfelle ist jedoch nicht exakt. Die Trommelfelle weisen eine Art katastrofenartiges Verhalten auf, und es wird einem Ball oft so gehen, daß ein Zyklus gleichmäßiger Sprünge plötzlich von einem Trommelfell unterbrochen wird, das in eine andere Position geschnappt ist und dadurch das rhythmische Muster beendet.

Daniel Wolf

aus: Daniel Wolf, ›Ein Komponist in der Galerie. Die Klanginstallationen von Alvin Lucier‹ in Alvin Lucier, Sol LeWitt chambers, Ausstellungskatalog Stadtgalerie Kiel, 1995



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