Benutzen Sie den Text zur Navigation
L l o r e n ç B a r b e r
de irregularis musica Mit ihrer grenzenlosen Komplexität, ihren inneren Schwankungen und unerforschten Winkeln gleicht die Stadt einem lebenden Organismus. Jede Stadt hat eine Seele, einen die meiste Zeit schlummernden ›Geist der Stätte‹. Barber erweckt diesen für kurze Zeit zum Leben. Er verwandelt den (urbanen) Raum in Poesie und tritt selbst vor der Wirkung seiner eigenen Provokationen zurück.

Nicht Barber hört man zu, sondern der Stadt, ihren Erinnerungen, ihrer ephemeren Musik. Das Läuten der Glocken rührt an das kollektive und individuelle (Unter-)Bewußtsein, die Resonanz der Glockentöne erfüllt die Stadt trotz ihrer scheinbaren Schmucklosigkeit mit einer Unzahl an Konnotationen und uralten Botschaften.

Der Klangraum ist reich an Widersprüchen: Die Glocken sind Sprachrohre einer bestimmten Straße, eines Gebäudes. Bar dieser ursprünglichen Bestimmung bricht sich ihr Klang unerwartet an den Mauern, Unebenheiten und Resonanzkörpern der Stadt. Man hört eine irreführende, richtungslos vagabundierende Musik, an jedem Ort verschieden. Barber hat die Musik aus dem geschlossenen Raum befreit, um sie in den Wind zu streuen. Er komponiert mit dem realen Ort, sucht das Festliche wiederzuentdecken und nimmt dabei äußere Einflüsse und Ausschweifungen der Natur in Kauf, macht diese sogar zu seinen Komplizen. Mechanik und körperliche Anstrengung des Glockenläutens ermöglichen eine unendliche Variation: ein Gemisch aus Schweiß (Schlagen und Pulsieren auf der Haut eines kollektiven Körpers), Erschöpfung von einem die ganze Nacht andauernden Konzert und ein Zustand von Trunkenheit; Katharsis, einer urbanen und modernen Version tranceartiger Riten nahe. Der Glockenklang mag diffus klingen, die Zeit ungewiß und die Stadt seltsam erscheinen: Klanggetöse, eine unbeständig tobende Musik, eben Irregularis musica, wie man den Tumult der Volksfeste des 15. Jahrhunderts bezeichnete.

Der Zeremonienmeister tritt zurück, erhoben wird der Anspruch auf die soziale Funktion des Musikers, auf das Wiedereinführen des bukolischen und karnavalesken, auf das Aufwühlen verstaubter Erinnerungen und vor allem auf das Wiedererlangen des Gemeinschaftssinnes innerhalb der Stadt und unter ihren Einwohnern. Eine Sehnsucht nach einem ›Miteinandersein‹ (l’être ensemble) in einer dionysischen Feier.

Alain Limoges



Home | Kunstwerke | Schauplätze | sonambiente live
Werk | Biografie | Essay | Werkschauplatz