A n a T o r f s
kultiviertes bedürfnis: ana torfs’ video vokabular Anamnese (Vorgeschichte): Bereits Ana Torfs’ erste Arbeiten sind wie alle folgenden variiert und systematisch fragmentiert, verspielt naiv und dennoch exakt proportioniert. Torfs arbeitet stringent und harmonisch und bleibt dabei aber immer fragil und elusiv. Sie übergibt uns eher großzügige Mengen kleinster, präziser Daten zu ihren Gegenständen, als daß sie einen allgemeinen Überblick zur Verfügung stellt. Sie erwartet von ihrem Publikum, daß es sich wie ein Kind mit seinem Kaleidoskop verhält, ein Auge gegen das helle Licht der Gegenwart verschließt, um ein paar glitzernde Perlen aus der Vergangenheit zu genießen, die durch ihre Spiegelkonstruktionen zu sehen sind. Ihr beeindruckendes selektives Interesse an Kultur und vergangenen Perioden ist ebenso erstaunlich wie ungewöhnlich, besonders, da es im Rahmen der 90er Jahre und der Normen der Postmoderne geschieht. Es ist, als ob sie mit ihren Videos die Vorgeschichte eines Leidens skizzieren wollte (ihr eigener Kontext oder Postmodernismus?), indem unterdrückte oder vergessene Ideen wiedererweckt werden.

Jeanne la Pucelle (1988, Farbe, 25 Minuten): Eine zeitgenössische Version des Lebens der Jeanne d’Arc, die auf Zeugnissen ihrer Freunde und Feinde beruht, wie sie in den Übersetzungen der Prozeßakten seitens der Historikerin Régine Pernoud überliefert sind.

Anabiose (Wiederaufleben nach umweltbedingter Ruhezeit): Torfs ließ die mittelalterlichen Texte in ihrer historisch angemessenen Umgebung von einer Vielzahl einfacher Charaktere in altmodischen Kostümen rezitieren. Aufgestellt in einem statischen Rahmen und nackter Beleuchtung, adressieren die anonymen Modelle ihre Erklärungen in einer absolut unemotionalen, fast indifferenten Weise an die Kamera.

Marco Polo, une histoire de brodeurs (1990, Farbe, 35 Minuten): Eine zeitgenössische und sehr fragmentarische Version von Marco Polos Reisebericht, wie er Rustichello von Pisa diktiert wurde, einem Schriftsteller von Ritterromanzen, der mit Marco Polo in Genua eine Gefängniszelle teilte.

Anachronismus (Zeitwidrigkeit): Von größter Wichtigkeit ist hier die physikalische Repräsentation der mündlichen Tradition; der extrem literarische, eindeutige und manchmal sogar neutrale Vortrag eines Textes. Alles soll für sich selbst sprechen; die Kamera registriert nur: jede kleinste Intonation, jeden Akzent oder jede spontane Geste. Altertümliche Worte gehen durch eigenartige Mundstücke, hallen in zeitgenössischen Räumen wider und erreichen damit eine neue Ära in Form undeutlicher Echos. Diese einfache Verfremdungstechnik verrät Torfs’ kritische Besessenheit, mit der sie über ihre konkreten Themen hinausgeht: Das einfache sinnliche Experiment einer kulturellen Zeitverkrümmung.

Mozart Material (1993, Farbe und Schwarz-Weiß, 52 Minuten; in Kooperation mit Jurgen Persijn): Ein verspielter Bericht des Konzeptes und der Durchführung von Rosas Choreographie Mozart/Conzertarias: Un moto di gioia. Ein Einblick in den Arbeitsprozeß und das ästhetische Vokabular einer zeitgenössischen Tanzgruppe.

Anaglyph (übereinanderprojizierend): Als Antwort auf Fragen zu dieser Dokumentation (einer Auftragsarbeit) beschreibt Torfs ihre eklektische, bewußt inkohärente Herangehensweise als "ein offenbar unfertiges, leicht irrsinniges Buch oder eine Enzyklopädie der Bewegung". Es ist beeindruckend, wie die Choreographin Anne Teresa De Keersmaeker ignoriert wird, um den kollektiven, vielstimmigen kreativen Prozeß von Tänzern gleichen Leistungsvermögens zu zeigen. Jede Tendenz zur Autobiographie oder individuellen Bestätigung wird durch die ständige Präsentation von Subjekten der archäologisch entfernten Vergangenheit oder eines zwar zeitgenössischen, aber klar definierten Kontextes unterdrückt.

Edwin Carels

aus: Edwin Carels, ›Cultivated Want: Ana Torf’s Video Vocabulary‹ in Inside the Visible, hrsg. v. Catherine de Zegher, Boston 1996





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